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Oder anders gefragt: Was liegt in unseren Genen? Und was haben wir selbst in der Hand? Wird man
zum Gewinner geboren oder kann jeder einer werden? Wie holt man das Beste heraus – aus seinen
Mitarbeitern, aus seinen Kindern, aus sich selbst? Fragen, die wohl keiner so gut beantworten kann wie
jener Mann, der sich seit Jahrzehnten damit beschäftigt:
Genetiker Markus Hengstschläger. Wir treffen
uns mit ihm im Traditionscafé in Wien, unweit seines Instituts für Medizinische Genetik an der Medizinuni
Wien.
Zehn Uhr am Vormittag. Markus Hengst-
schläger bestellt sich einen Kaffee. Es ist
der fünfte seit dem Aufstehen heute Mor-
gen. Sein Tag dauert aber auch schon lange,
schließlich zählt der Genetiker und Best-
sellerautor zu den Frühaufstehern. Dass er
ein Morgenmensch ist, hat er sich übrigens
nicht ausgesucht, das sei genetisch bedingt,
sagt er. Nebenbei bemerkt bedeutet dies,
dass man Mitarbeiter mit einem „Morgen-
muffel-Gen" zwar durchaus dazu zwingen
kann, in aller Früh ihren Dienst anzutre-
ten, produktiver wären sie aber zu einem
späteren Zeitpunkt. Nur so viel dazu. Das
Kaffeehaus füllt sich nach und nach. Mit
Menschen unterschiedlichen Alters, unter-
schiedlicher Herkunft, jung, alt, groß, klein
- jeder Einzelne trägt eine Fülle an Talenten
und Fähigkeiten in sich, davon ist Hengst-
schläger überzeugt. Fast genauso sicher ist
er sich aber, dass die wenigsten Menschen
diese auch nutzen. Warum? Weil wir so da-
mit beschäftigt sind, uns dem Durchschnitt
anzupassen, dass wir ganz vergessen, un-
sere Talente zu empowern, also etwas da-
raus machen.
Genau darum gehe es aber: „Jeder Mensch
kommt mit einem gewissen genetischen
Rüstzeug auf die Welt – sozusagen mit Blei-
stift und Papier“, erklärt Hengstschläger.
Das alleine würde aber noch lange nicht
reichen, um ein Macher zu sein. Erfolgreich
werde man erst dann, wenn man seine In-
dividualität entdeckt und diese durch harte
Arbeit und viel Übung umsetzt. Als Formel
ausgedrückt: Gene + harte Arbeit = Erfolg.
Diese Energie, die wir für die Umsetzung
bräuchten, stecken wir aber in unserer
Schulzeit vielmehr in unsere Schwächen.
Denn, mal ehrlich: Was sagen Sie zu Ih-
rem Kind, wenn es mit vier schlechten und
einer sehr guten nach Hause kommt? Na,
in den vier Fächern muss es noch ordent-
lich was lernen, in dem einen Fach mit der
sehr guten Note braucht es sich kaum noch
anzustrengen, nicht wahr? „Das heißt, wir
konzentrieren uns zu 90 Prozent darauf,
etwas auszubessern. Wozu führt das? Die
jungen Menschen werden dort fleißig sein,
wo sie nicht talentiert sind. Das führt maxi-
mal zu Durchschnitt, auch in dem Fach, wo
sie hochtalentiert sind. Am Ende haben wir
lauter durchschnittliche Menschen und es
gibt keine Innovation, keine Spitzenleistung,
gar nichts.“ Nur jede Menge unbeschriebe-
ne Blätter.
Warum wir in
der Falle sitzen
Wir haben also ein System, das ganz jungen
Menschen sagt: Du musst in allem gut sein,
sonst schaffst du’s nicht. „Demnach kann
man nur Genetiker werden, wenn man in
Geographie auch gute Noten hat. Das ver-
stehe ich nicht“, so der gebürtige Oberöster-
reicher, der mit seiner vierköpfigen Familie
in der Nähe von Wien lebt. Er warnt davor,
dass unser heutiges Bildungssystem sehr
teuer sei und ebenso teuren Output gene-
riere. Markus Hengstschlägers Stimme
(übrigens zu 100 Prozent genetisch) wird
synchron mit seiner Empörung über das
Bildungssystem lauter, sodass die beiden
jungen Damen am Nebentisch neugierig
über ihre Kaffeetassen zu uns blinzeln. Bei-
de streichen sich fast ebenso synchron über
ihren runden Bauch, welcher offensichtlich
nicht in näherem Zusammenhang mit der
Sachertorte vor ihnen steht. Nun ja, bis ihr
Nachwuchs in Kontakt mit dem österreichi-
schen Schulsystem kommt, dauert es noch
eine Weile. Vielleicht hat sich bis dahin schon
etwas verbessert, Hengstschläger hätte je-
denfalls einen ganz konkreten Lösungsvor-
schlag: „Jeder Mensch muss einen aktiven
Verzicht treiben dürfen in den Bereichen, in
denen er offensichtlich nicht so talentiert ist,
um Zeit sowie Energie zu haben, seine Ta-
lente zu empowern.“ Wenn jemand also in
Sprachen schlecht ist, bedeutet das nicht,
dass er diese komplett vernachlässigen
kann, aber es reicht, einen Mindeststandard
zu erreichen. „Niemand kann ein noch so
schönes Bild aufhängen, wenn er keinen
Hammer und Nagel bedienen kann“, so der
Genetiker. Um sich jedoch auf seine Stärken
konzentrieren zu können, geht es vorweg
natürlich darum, diese überhaupt zu erken-
nen. Aufgabe der Eltern? Hengstschläger
nimmt einen kräftigen Schluck von seinem
Kaffee und stellt die Tasse sofort wieder hin,
um mit dem Missverständnis schnellst-
möglich aufzuräumen: „Jetzt stellen Sie
sich mal vor, zwei naturwissenschaftlich
begabte Eltern bekommen ein musikalisch
talentiertes Kind ... wie sollen die denn bitte
dieses Talent entdecken? Wie sollen sie die
Musikalität ihres Sohnes oder ihrer Tochter
erkennen, wenn sie selbst keinen geraden
Ton herausbekommen?“ Unabhängig da-
von, gebe es auch Eltern, die entweder gar
keine Zeit haben, sich auf die Suche nach
den Talenten ihrer Kinder zu machen oder
keine Lust darauf haben oder aber es fehlt
ihnen das Geld dazu, das entdeckte Talent
zu fördern.
Damit spricht er jenes Thema an, das ihm
ganz besonders am Herzen liegt: die Erb-
lichkeit von Bildung. „Die Entscheidung,
ob jemand zu seinen Talenten findet und
diese erfolgreich umsetzen kann, hängt
leider zum Großteil von den Eltern ab“,
sagt Hengstschläger. Auf der einen Seite
gebe es Eltern, die ihren Kindern die ganze
Bandbreite an Möglichkeiten bieten, vom
Ballettunterricht bis hin zum Erlernen ei-
nes Musikinstruments, während es auf der
anderen Seite Kinder gibt, die keine Chan-
ce darauf haben. „Das ist doch ungerecht!“,
sagt er in einem Ton, der darauf schließen
lässt, wie sehr er sich dafür einsetzt, dass
Kindern schon im Kindergartenalter ge-
holfen wird, sich auf die Suche nach ihren
individuellen Stärken zu machen. Gerade
wird ein von ihm empfohlenes Instrument,
der Bildungskompass, politisch umgesetzt
– dabei sollen sich Experten auf die Suche
nach Talenten machen. Außerdem plädie-
re er dringend zur Ganztagsschule: „Denn
selbst wenn die Eltern sagen, sie können
die Verantwortung dafür übernehmen, die
SAGEN SIE MAL, WIE WIRD
MAN EIGENTLICH EIN MACHER?