Zehn Uhr am Vormittag. Markus Hengstschläger bestellt sich einen Kaffee. Es ist der fünfte seit dem Aufstehen heute Morgen. Sein Tag dauert aber auch schon lange, schließlich zählt der Genetiker und Bestsellerautor zu den Frühaufstehern. Dass er ein Morgenmensch ist, hat er sich übrigens nicht ausgesucht, das sei genetisch bedingt, sagt er. Nebenbei bemerkt bedeutet dies, dass man Mitarbeiter mit einem „Morgenmuffel-Gen" zwar durchaus dazu zwingen kann, in aller Früh ihren Dienst anzutreten, produktiver wären sie aber zu einem späteren Zeitpunkt. Nur so viel dazu. Das Kaffeehaus füllt sich nach und nach. Mit Menschen unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Herkunft, jung, alt, groß, klein - jeder Einzelne trägt eine Fülle an Talenten und Fähigkeiten in sich, davon ist Hengstschläger überzeugt. Fast genauso sicher ist er sich aber, dass die wenigsten Menschen diese auch nutzen. Warum? Weil wir so damit beschäftigt sind, uns dem Durchschnitt anzupassen, dass wir ganz vergessen, unsere Talente zu empowern, also etwas daraus machen.
Genau darum gehe es aber: „Jeder Mensch kommt mit einem gewissen genetischen Rüstzeug auf die Welt – sozusagen mit Bleistift und Papier“, erklärt Hengstschläger. Das alleine würde aber noch lange nicht reichen, um ein Macher zu sein. Erfolgreich werde man erst dann, wenn man seine Individualität entdeckt und diese durch harte Arbeit und viel Übung umsetzt. Als Formel ausgedrückt: Gene + harte Arbeit = Erfolg. Diese Energie, die wir für die Umsetzung bräuchten, stecken wir aber in unserer Schulzeit vielmehr in unsere Schwächen. Denn, mal ehrlich: Was sagen Sie zu Ihrem Kind, wenn es mit vier schlechten und einer sehr guten nach Hause kommt? Na, in den vier Fächern muss es noch ordentlich was lernen, in dem einen Fach mit der sehr guten Note braucht es sich kaum noch anzustrengen, nicht wahr? „Das heißt, wir konzentrieren uns zu 90 Prozent darauf, etwas auszubessern. Wozu führt das? Die jungen Menschen werden dort fleißig sein, wo sie nicht talentiert sind. Das führt maximal zu Durchschnitt, auch in dem Fach, wo sie hochtalentiert sind. Am Ende haben wir lauter durchschnittliche Menschen und es gibt keine Innovation, keine Spitzenleistung, gar nichts.“ Nur jede Menge unbeschriebene Blätter.
Warum wir in der Falle sitzen
Wir haben also ein System, das ganz jungen Menschen sagt: Du musst in allem gut sein, sonst schaffst du’s nicht. „Demnach kann man nur Genetiker werden, wenn man in Geographie auch gute Noten hat. Das verstehe ich nicht“, so der gebürtige Oberösterreicher, der mit seiner vierköpfigen Familie in der Nähe von Wien lebt. Er warnt davor, dass unser heutiges Bildungssystem sehr teuer sei und ebenso teuren Output generiere. Markus Hengstschlägers Stimme (übrigens zu 100 Prozent genetisch) wird synchron mit seiner Empörung über das Bildungssystem lauter, sodass die beiden jungen Damen am Nebentisch neugierig über ihre Kaffeetassen zu uns blinzeln. Beide streichen sich fast ebenso synchron über ihren runden Bauch, welcher offensichtlich nicht in näherem Zusammenhang mit der Sachertorte vor ihnen steht. Nun ja, bis ihr Nachwuchs in Kontakt mit dem österreichischen Schulsystem kommt, dauert es noch eine Weile. Vielleicht hat sich bis dahin schon etwas verbessert, Hengstschläger hätte jedenfalls einen ganz konkreten Lösungsvorschlag: „Jeder Mensch muss einen aktiven Verzicht treiben dürfen in den Bereichen, in denen er offensichtlich nicht so talentiert ist, um Zeit sowie Energie zu haben, seine Talente zu empowern.“ Wenn jemand also in Sprachen schlecht ist, bedeutet das nicht, dass er diese komplett vernachlässigen kann, aber es reicht, einen Mindeststandard zu erreichen. „Niemand kann ein noch so schönes Bild aufhängen, wenn er keinen Hammer und Nagel bedienen kann“, so der Genetiker. Um sich jedoch auf seine Stärken konzentrieren zu können, geht es vorweg natürlich darum, diese überhaupt zu erkennen. Aufgabe der Eltern? Hengstschläger nimmt einen kräftigen Schluck von seinem Kaffee und stellt die Tasse sofort wieder hin, um mit dem Missverständnis schnellstmöglich aufzuräumen: „Jetzt stellen Sie sich mal vor, zwei naturwissenschaftlich begabte Eltern bekommen ein musikalisch talentiertes Kind ... wie sollen die denn bitte dieses Talent entdecken? Wie sollen sie die Musikalität ihres Sohnes oder ihrer Tochter erkennen, wenn sie selbst keinen geraden Ton herausbekommen?“ Unabhängig davon, gebe es auch Eltern, die entweder gar keine Zeit haben, sich auf die Suche nach den Talenten ihrer Kinder zu machen oder keine Lust darauf haben oder aber es fehlt ihnen das Geld dazu, das entdeckte Talent zu fördern.
Damit spricht er jenes Thema an, das ihm ganz besonders am Herzen liegt: die Erblichkeit von Bildung. „Die Entscheidung, ob jemand zu seinen Talenten findet und diese erfolgreich umsetzen kann, hängt leider zum Großteil von den Eltern ab“, sagt Hengstschläger. Auf der einen Seite gebe es Eltern, die ihren Kindern die ganze Bandbreite an Möglichkeiten bieten, vom Ballettunterricht bis hin zum Erlernen eines Musikinstruments, während es auf der anderen Seite Kinder gibt, die keine Chance darauf haben. „Das ist doch ungerecht!“, sagt er in einem Ton, der darauf schließen lässt, wie sehr er sich dafür einsetzt, dass Kindern schon im Kindergartenalter geholfen wird, sich auf die Suche nach ihren individuellen Stärken zu machen. Gerade wird ein von ihm empfohlenes Instrument, der Bildungskompass, politisch umgesetzt – dabei sollen sich Experten auf die Suche nach Talenten machen. Außerdem plädiere er dringend zur Ganztagsschule: „Denn selbst wenn die Eltern sagen, sie können die Verantwortung dafür übernehmen, die Talente ihrer Kinder zu entdecken und zu fördern, hab ich immer noch meine Sorgen. Weil gerade diese Eltern dann genau jene Talente fördern, die sie für gut befinden.“ Und das sei schließlich ein weiteres großes Problem – die Bewertung von Talenten. Denn wenn der Bub ein Fußballtalent hat, dann ist das zumeist ziemlich cool für seinen Vater. Doch was denkt er über ein ausgeprägtes Talent im Umgang mit bedürftigen Menschen? Werden das seine Eltern auch so unbedingt fördern wollen? „In der Ganztagsschule sollten die Kinder daher am Vormittag Unterricht haben, danach noch Zeit für Hausübungen und dann sind die Profis im Einsatz – ich meine nicht die Lehrer, sondern sogenannte Scouts, deren Aufgabe es ist, herauszufinden, ob da ein Schlagzeugspieler oder ein Technikgenie oder was auch immer dabei ist.“ Die Aufgabe des Lehrers sei es, die Basis für alles zu schaffen, der Scout habe hingegen die Aufgabe, das Kind auf dessen Talente aufmerksam zu machen. Dann könne das Kind diese ausprobieren und natürlich selbst entscheiden, ob es diese auch umsetzen möchte oder nicht.
Wo (und wie) geht’s hier zur Weltspitze?
Und das sei nicht nur für jedes einzelne Kind wichtig, sondern auch für den Wirtschaftsstandort. „Österreich ist weder ein Rohstoff- noch ein Billiglohnland und daher haben wir keine andere Wahl als die individuellen genetischen Leistungsvoraussetzungen zu entdecken und optimal einzusetzen“, sagt Hengstschläger, der neben Hannes Androsch Vorsitzender im Rat für Forschung und Technologieentwicklung ist und dabei die Bundesregierung berät. Es reiche schon lange nicht mehr in Österreich das zu tun, was alle anderen machen. „Wenn wir Erfolg haben möchten, müssen wir Extrameilen gehen.“ Die Zeit der tief hängenden Weintrauben sei vorbei, es gehe uns immer noch wunderbar, sämtliche Rankings würden aber zeigen, dass Österreich mittlerweile ein Innovations-Follower-Land sei. Um wieder zum Innovationsführer zu werden, rät Hengstschläger, auf die Individuen zu schauen. „Wir müssen jedem Individuum sagen: Beschäftige dich nicht zu sehr mit deinen Schwächen, sondern kümmere dich um deine Stärken, wir wollen nämlich Spitzenleistungen!“
„Die Talente der Menschen seien der Erfolgsschlüssel für die Zukunft. Die heimische Wirtschaft brauche daher Innovationen, Ideen, herausragende Leistungen, Resultate. Und das gelinge nur, wenn sich Individuen auf die Suche nach ihren Stärken machen, sich nicht zu sehr mit ihren Schwächen beschäftigen, um dann Spitzenleistungen zu erreichen. „Wenn heute jemand fragt, wozu wir so viele Innovationen bräuchten, dann ist meine Antwort: Wir kennen die Fragen von morgen nicht, daher ist es gut, wenn wir heute viele Innovationen und Ideen haben, um dann eine zu ziehen, wenn die Frage kommt“, erklärt der Genetiker. Er nennt die Schweiz als positives Beispiel für ein erfolgreiches Innovations-Leader-Land. Grund dafür sei auch das dort vor etwa 30 Jahren eingeführte politische Förderkonzept, das folgender Maßen funktioniert: „Stellen Sie sich vor, es gibt zehn Forscher mit guten Ideen, von denen man natürlich nicht weiß, welche dieser Ideen aufgehen wird. In der Schweiz werden alle zehn Ideen gefördert. In Österreich hingegen fördert man sicherheitshalber keine. Und dann geben die Politiker natürlich gleich eine Pressekonferenz, um zu zeigen, wie viel Geld eingespart wurde.“
Warum es sich lohnt, aus der Reihe zu tanzen
In der Zwischenzeit haben die beiden Bald-Mütter das Café verlassen (Vermutlich, um ein One-way-Ticket nach Zürich zu buchen.), an ihrer Stelle sitzt nun ein junger Mann, wahrscheinlich noch ein Teenager. Der kritische oder vielmehr verächtliche Blick der feinen Dame mit der Perlenhalskette am Tisch gegenüber, ist ihm egal. Möglicherweise findet sie sein legeres Auftreten nicht ganz angemessen für ein so traditionelles Kaffeehaus. Vielleicht wundert sie sich aber auch darüber, warum er um diese Zeit nicht in der Schule ist. Fragt man Markus Hengstschläger, worüber er sich mehr Sorgen mache – über ein Kind, das extrem angepasst ist oder eines, das stark rebelliert, bekommt man zur Antwort ein vielsagendes Grinsen. An dieser Stelle sei zu erwähnen, dass Hengstschläger mit sechzehn Jahren als Punk unterwegs war. Und dann? Dann studierte er Genetik, forschte an der YALE University, mit 24 promovierte er, mit 29 wurde er außerordentlicher Professor, sechs Jahre später Professor für Medizinische Genetik an der Medizinuni Wien, heute leitet er das Institut. Er war immer einer, der aus der Reihe tanzt. Einer, der sich schon sehr früh in den Kopf gesetzt hatte, Genetiker zu werden. Und das, obwohl „1986, als ich maturiert habe, niemand davon ausging, dass man mit Genetik Geld verdienen kann, geschweige denn Ruhm und Ehre bekommt“, sagt er und fügt schmunzelnd hinzu: „Und irgendwann einmal auf dem Cover eines Magazins landet.“ Er habe Glück gehabt, weil seine Eltern (der Vater war Uni-Professor sowie Rektor der Uni in Linz, die Mutter Direktorin einer Schule), ihn nicht daran gehindert, sondern vielmehr dazu ermutigt haben, aus der Reihe zu tanzen. „Dem Kind Mut zu machen, das ist natürlich Aufgabe der Generation darüber – denn wenn jemand sagt, ich will Genetiker werden, dann braucht er schon Förderer, die sagen: Okay, viele wollen das jetzt zwar nicht werden, aber es scheint etwas zu sein, das dich juckt, also mach es!“ Hätte er die Ratschläge anderer angenommen, wäre er heute wohl Atomphysiker. „Atomphysik war damals der letzte Schrei in Europa, Asien und Amerika. Aber wo hätte ich heute als Atomphysiker in Österreich einen Job?“ Der Genetik wurde hingegen keine Zukunft vorausgesagt, im Gegenteil – 1,2 Millionen Menschen unterschrieben während seiner Ausbildungszeit ein Antigentechnik-Volksbegehren. Heute hat er drei Bestseller geschrieben, publiziert in hochangesehenen Journalen weltweit, entdeckte Dinge, die vorher niemand gesehen hatte, leitet gleichzeitig eine Firma, ein Uni-Institut mit 100 Leuten, sitzt in Gremien, wird als Berater herangezogen und hält Vorträge. Sein Tipp für junge Menschen daher: Es ist kein guter Ansatz, sich auf Menschen zu verlassen, die behaupten, die Zukunft zu kennen. „Dazu kann ich Ihnen viele Beispiele aufzählen – ich habe Freunde, die sich für Islamkunde interessierten, denen wurde damals gesagt, dass sie wohl Taxifahrer werden, wenn sie das studieren. Und wie viele solche Menschen würden wir heute brauchen, die Experten auf diesem Gebiet sind?“
Was in Zukunft wirklich zählt
Übrigens: Wenn hier im Café ein Radar zur Bemessung der Sprechgeschwindigkeit aufgestellt wäre, dann hätte es in der vergangenen Stunde wohl so oft wie bei einem Gewitter geblitzt. Es ist unglaublich, wie viele Buchstaben Markus Hengstschläger in eine Minute packt. Ob Schnellreden erblich ist? Egal, ich nutze seine kurze Sprechpause lieber um ihn zu fragen, ob denn der momentane allgemeine Ratschlag an junge Menschen, eine Karriere in der Technik anzustreben, demnach gar nicht so klug sei? Er schmunzelt. „Das finde ich sehr nett, aber nicht zukunftsträchtig.“ Er erzählt von einer Studie zweier Oxford Professoren, welche prognostiziert, dass im Jahr 2035 etwa die Hälfte aller Berufe, die wir heute noch beim Namen nennen können, nicht mehr existieren wird. „Es ist wirklich hochinteressant, dass aber immer noch Leute herumlaufen, die behaupten zu wissen, was wir in 30 Jahren brauchen.“ Bei einer derart hohen Veränderbarkeit der Zukunft gebe es zwei Eigenschaften, die es zu unterrichten gilt: Intrapersonelle und interpersonelle Intelligenz. „Das sind die zwei wichtigsten Talente, die wir fördern müssen“, erklärt er. Intrapersonelle Intelligenz bedeutet, dass man seine eigenen Stärken und Schwächen kennt. Interpersonelle Intelligenz ist im allgemeinen Sprachgebrauch besser bekannt als soziale Kompetenz, Teamfähigkeit oder Empathie. Wer diese beiden Eigenschaften besitzt, sei für alles in der Zukunft gerüstet, so Hengstschläger. „Wenn Sie Ihren Kindern also etwas mitgeben möchten, dann kümmern Sie sich darum, dass sie ihre Stärken entdecken können, bringen Sie ihnen soziale Kompetenz bei. Und geben Sie ihnen ein Rückgrat, indem Sie sagen: Mach dir keine Sorgen und höre nicht auf das Negative, das andere sagen. Probier es aus und wenn du damit falsch liegst, ist das kein Problem – hab Mut.“
Mit Mut meint er vor allem den Mut, neue Wege einzuschlagen, den Mut, anders zu sein. Und natürlich auch den Mut, Fehler zu machen. „Im Moment sieht es aber so aus: Wenn Sie in einen Betrieb kommen und 20 Leute machen dasselbe, werden Sie wohl auch genau das machen. Wenn Sie den Mut haben, etwas anderes zu machen, dann möchte ich sehen, wie lange Ihre Energie dazu anhält“, so Hengstschläger. Es sei schließlich wesentlich angenehmer, mit 20 anderen Menschen Unrecht zu haben, als der Einzige zu sein, der einen Fehler macht, weil er etwas Neues ausprobiert hat. Als Beispiel dafür nennt er die Finanzkrise 2008, die von genau diesem Konzept getragen war: „Die Banker rufen sich untereinander an, um festzustellen, dass jede Bank der Welt genau das gleiche gemacht hat und dass es deshalb nicht so falsch sein kann. Es war aber falsch, doch die Mehrheit scheint uns Recht zu geben.“ Aus der Reihe zu tanzen, sei also extrem wichtig. Koste aber auch jede Menge Überwindung, denn wer etwas riskiert, muss auch aushalten, dass am Ende vielleicht alle sagen: Ich hab dir eh gesagt, dass es schiefgeht! „Wir müssen gut kommunizieren, dass derjenige, der Misserfolge hat, kein schlechter Mensch ist – er ist vielmehr oft jemand, der eine hohe Innovation anstrebt.“ Ihm müsse man aber auch klarmachen, dass er auf andere nicht herabblicken darf, denn wenn es die anderen nicht gibt, ist er nicht finanziert. „So funktioniert das System – egal welches, Wirtschaftsstandort, Unternehmen oder Privatleben – nur die richtige Mischung aus Flexibilität und Sicherheit bringt Erfolg.“
Was ein wirklich guter Manager anders macht
Hengstschläger verwendet dafür den Begriff „Flexicurity“ und meint damit: Es gibt zwei Arten von Entscheidungen, die jemand treffen kann – völlig sichere (yes or yes), die garantiert aufgehen und unsichere (yes or no), die risikoreich sind, aber im Erfolgsfall Innovation bedeuten können. „Ein Manager muss jeden Tag folgende Antwort finden: Wie viel Prozent Flexibility und wie viel Prozent Security machen wir heute? Das hängt von Hunderten Parametern ab, etwa wie viel Geld am Kapitalmarkt ist, was die Konkurrenz gerade macht und was gestern passiert ist. Der Macher macht nichts anderes als einerseits die genetischen individuellen Leistungsvoraussetzungen in seinem Team zu empowern und andererseits die Frage der Flexicurity zu diskutieren“, erklärt Hengstschläger. Setzt ein Unternehmen ausschließlich auf Innovation, sei die Gefahr, zu viele Fehlentscheidungen hintereinander zu machen, sehr groß. Wer aber nur Sicherheit wählt, würde den Nokia-Effekt zu spüren bekommen: „Dann haben Sie zwar immer brav Geld verdient, aber irgendwann überholt Sie einer mit einer neuen Idee und Sie sind verschwunden.“ Es gebe viele Firmen, die bei einer gar nicht schlechten Auftragslage einfach nur sicher unterwegs waren und dann anderen dabei zugeschaut haben, wie diese den Markt überrollten. „Und jeder wundert sich, dass eine so gut gehende, traditionelle Firma, die jahrzehntelang Geld verdient hat, plötzlich weg sein kann.“ Auf der anderen Seite gebe es Start-ups, die ohne Plan risikoreich loslegen und nach drei Jahren verschwunden sind. Markus Hengstschläger hält von beiden nichts, man brauche eine Cash-Cow, etwas Sicheres also, womit man Geld verdient und gleichzeitig Innovationen. „Die richtige Abwägung trennt den guten vom schlechten Manager.“
Ebenso rät Hengstschläger jedem Menschen, für sich selbst täglich zu überprüfen, wie viel Flexibility und wie viel Security er im Moment braucht. Genau das mache er selbst auch jeden Abend, wenn er zu Hause ist. „Wenn Sie bei 100 Prozent Sicherheit landen, dann stehen Sie wahrscheinlich kurz vorm Burn-out, weil Sie nur Dinge tun, die Sie tun müssen. Wenn Sie aber bei 100 Prozent Selbstverwirklichung sind, führt das auch zu nichts, dann leben Sie vermutlich auf der Straße“, erklärt er. Die Prozentsätze können sich aber immer wieder ändern – wer neue Dinge ausprobieren möchte, bei dem überwiegt natürlich in dem Moment das Risiko, das aber immer noch getragen ist vom anderen Anteil der Sicherheit.
Da braut sich was zusammen
Wie schnell die Zeit vergangen ist! Der Kellner balanciert mittlerweile mehr Biergläser als Kaffeetassen durch das Kaffeehaus, es muss schon gegen Mittag sein. Markus Hengstschläger bestellt sich einen frisch gepressten Orangensaft, obwohl er Bier toll findet. „Denken’S nur mal daran, wie viele Biersorten es gibt, als Genetiker liebe ich natürlich diese Diversität“, erklärt er. Mit Bier kennt er sich wohl auch deshalb aus, weil er Bierbotschafter ist und sich gemeinsam mit der Brau Union zum Ziel gesetzt hat „Österreich zum Land mit der besten Bierkultur Europas“ zu machen. „Es gibt zwei grob unterschiedliche Arten, aber unzählige unterschiedliche Sorten und natürlich immer neue Kreuzungen, bei denen verschiedene Merkmale ganz bewusst aber völlig natürlich verstärkt werden.“ Am Ende sei es ein Gewinn für den Biergenießer: immer neue Hopfensorten, die Geschmack, Charakter und Spannung ins Bier bringen.
Also in etwa so wie es für ein Land ein Gewinn ist, viele verschiedene Talente zu haben. Wummmm! Ein lauter Knall. Dem Kellner ist das Tablett aus der Hand gefallen. Kann schon mal passieren. Die Frage, die aber jetzt unaufhaltbar aufkommt, ist nur: Liegt sein Talent vielleicht ganz woanders und wurde es nur noch nicht entdeckt, nicht gefördert? Hätte er vielleicht das Zeug zum Nobelpreis? Wäre er gerne aus der Mitte getanzt, doch niemand ermutigte ihn dazu?_
WORAUF ES ANKOMMT
Zunächst die gute Nachricht von Markus Hengstschläger: Ja, Spitzenleistung ist möglich. Für jedes Land, für jedes Unternehmen, für jeden Menschen. Doch jetzt kommt das große „Aber“: Aber nur dann, wenn es gelingt, ...
01… Talente zu empowern.
„Ein Macher ist ein Mensch, der seine eigenen Anlagen und die Anlagen anderer Menschen optimal empowern kann, denn dann gelingt Erfolg.“
02… Talente wertfrei zu sehen.
„Ich kenne kaum ein Wort, das so diskriminierend verwendet wird wie Talent. Es soll mir mal jemand erklären, warum ein Fußballer, der ein schönes Tor schießt, ein größeres Talent sein soll als ein Student, der bei mir studiert hat und nachher redlich dieses Wissen in seinem Beruf ausübt. Warum reden wir vom ersten und nicht vom zweiten? Weil er häufiger in der Zeitung steht? Weil er mehr verdient? Das ist kein Maßstab für Talent. Erst wenn wir verstanden haben, dass ein Mensch, der die Gabe hat, alte Menschen liebevoll zu pflegen, ein mindestens gleich großes Talent ist wie ein Fußballspieler, kann das System funktionieren.“
03… dass Bildung keine Frage des Einkommens ist.
„Es ist einfach ungerecht, dass die Wahrscheinlichkeit für ein Kind, seine Talente und Stärken zu entdecken und gefördert zu bekommen, vom Engagement seiner Eltern abhängt.“
04… aus der Reihe zu tanzen.
„Denn was haben jene Menschen, auf die wir heute stolz sind und über die wir alle reden, Menschen wie Elfriede Jelinek, Gustav Klimt, Egon Schiele, Albert Einstein, Wolfgang Amadeus Mozart, Erwin Schrödinger und Oskar Kokoschka gemeinsam?“
05… für die Zukunft gerüstet zu sein.
„Glauben Sie mir, es ist kein guter Ansatz, sich auf Menschen zu verlassen, die behaupten, die Zukunft zu kennen. Wir kennen die Fragen von morgen nicht, also können wir schon gar nicht die Antworten von morgen wissen. Gerüstet sind wir dann, wenn jedes Individuum seine Stärken und Schwächen herausfindet und wenn wir soziale Kompetenz, Teamfähigkeit sowie Empathie entwickeln.“
06… das richtige Maß an Sicherheit und Risiko zu finden.
„Die Mischung aus Sicherheit und Risiko macht’s aus – ich nenne das Flexicurity. Nur auf Innovationen zu setzen, kann man sich nicht leisten. Gleichzeitig kann man es sich aber auch nicht leisten, immer nur auf Nummer sicher zu gehen – denn dann kommt plötzlich einer von rechts mit einer neuen Innovation, weil er flexibel war und drängt einem vom Markt.“
07… eine Fehlerkultur einzuführen.
„Wer einen wissenschaftlichen Durchbruch schaffen möchte, wer Innovationen ins Leben rufen will, wer etwas entdecken möchte, das vor ihm noch keinem gelungen ist, der hat natürlich ständig das Risiko, Fehler zu machen. Und dazu muss er motiviert werden, indem es völlig okay ist, Misserfolge zu haben.“
Gedanken
Ein Talent, das ich nicht besitze, aber gerne besitzen würde_ ein musikalisches Talent.
Die besten Ideen kommen mir_ beim Joggen oder im Gespräch mit meiner Frau.
Was ich lieber nicht geerbt hätte_ meine Eitelkeit.
Meine Lebensphilosophie_ Leben und leben lassen.
Mein Charakter in drei Worten_ fleißig, konstant, konsequent.
Social Media_ ist an der Universität ein präsentes Thema, die Studenten interagieren darüber. Als Individuum bin ich aber nicht bei Facebook oder Twitter, ich habe nicht einmal WhatsApp.
Eine Biographie über mich hätte den Titel_ Ohne Fleiß kein Preis.
Wenn ich einmal ins Gefängnis komme, dann weil_ ich einem mir sehr nahestehenden Menschen mit einer Therapie geholfen habe, die in Österreich verboten ist.
Am meisten bewundere ich Menschen, die_ einen neuen Weg gehen und dabei den alten verlassen.
Worüber ich die Meinung in den letzten zehn Jahren geändert habe_ Über die Frage, ob man die Gene des Menschen verändern können wird oder nicht.