Es fällt schwer, nach einem Besuch beim Kunststoffverarbeiter Filzwieser in Gaflenz und dessen Eigentümer Gerhard Filzwieser zu entscheiden, worüber man als Erstes schreiben soll. Über die Entscheidung, dass Wachstum kein Unternehmensziel mehr ist? Oder darüber, dass es keine Jours fixes mehr gibt und keine langfristigen Budgetpläne mehr erstellt werden? Oder doch darüber, dass sämtliche Hierarchien im Betrieb abgeschafft wurden? Das sind alles Punkte, die man in einem Industrieunternehmen nicht erwarten würde, und daher sind sie auch berichtenswert. Aber es würde zu kurz greifen, mit solch einer einzelnen Maßnahme zu beginnen, wenn man das Familienunternehmen Industrietechnik Filzwieser vorstellt. Eigentümer und Geschäftsführer – pardon – Lotse Gerhard Filzwieser begann vor drei Jahren, mit seinem Unternehmen einen völlig neuen Weg einzuschlagen. Zum Lotsen kommen wir später noch, beginnen wir von vorne.
„Ich folgte im Job und im Sport auch lange Zeit dem klassischen Motto ‚höher, schneller, weiter’. Aber irgendwann habe ich gemerkt, dass es sich nicht mehr richtig anfühlt und es uns Menschen nicht gut tut“, erzählt Filzwieser darüber, wie er begonnen hat, sein Tun zu hinterfragen. Beim Thema Digitalisierung würde es immer nur darum gehen, wie man die Effizienz noch weiter steigern könne. Filzwieser vermisst dabei die Beschäftigung mit der Rolle des Menschen: „Wir reden nur mehr über Digitalisierung und Künstliche Intelligenz und wo wir diese einsetzen. Aber wir fragen nicht, was den Menschen ausmacht, wo wir diesen mit welchen Fähigkeiten auch in Zukunft brauchen. Wir sollten uns in derselben Intensität, mit der wir uns mit der Digitalisierung beschäftigen, auch mit den Menschen beschäftigen.“ Er plädiert für eine „Natürliche Intelligenz“.
Freiheit
Ungewohnte Worte für einen Eigentümer eines Industriebetriebes, der mit drei Folien-Extrusionsanlagen, 21 Spritzgussmaschinen sowie einem eigenen Werkzeugbau 16 Millionen Euro erwirtschaftet. Doch Filzwieser stellt klar: „Ich bin kein Weltfremder und verweigere mich den anstehenden Dingen nicht. Wir gehen nur viel zu unreflektiert in das Thema rein. Jeder, der nicht kritisch das Warum der Digitalisierung hinterfragt, wird am Ende ein Opfer davon sein.“ Und genau dieses Warum habe er begonnen, für sich und sein Unternehmen zu hinterfragen, und dadurch seinem Unternehmen „eine Identität“ gegeben. Die dabei für ihn zentralste Frage war: Warum gehen die Menschen jeden Tag wieder in die Firma rein? Filzwieser ist dabei auf zwei zentrale Darums gekommen. Erstens: die materielle Facette. „Ein Unternehmen, das keinen Erfolg hat, hat keine Existenzgrundlage. Aber es ist mir bewusst geworden, dass es nicht um Gewinnmaximierung geht, sondern um die langfristige materielle Existenzgrundlage eines jeden Mitarbeiters.“ Zweitens: der Mensch selbst. „Ich will im Betrieb ein Biotop schaffen, wo es um den Menschen in seiner Ganzheit mit all seinen Ängsten und Sorgen geht.“ Die Mitarbeiter sollen bei Filzwieser keine Rolle spielen müssen, sondern wirklich ganz sie selbst sein können. Denn der Unternehmer ist überzeugt: „Der Mensch ist nicht teilbar, jemand, der persönlich nicht in seiner Mitte ist, ist es auch im Job nicht.“
Klingt ja alles toll, aber in der Realität schaut das dann meist anders aus, denkt man sich bei solchen Ausführungen schnell einmal. Filzwieser ist sich dessen bewusst, fügt auch gleich noch hinzu: „Ich weiß, heute steht der Mensch überall im Mittelpunkt. In vielen Fällen geht es aber über Worthülsen nicht hinaus. Häufig wird in diesem Zusammenhang der furchtbare Begriff Employer Branding verwendet.“ Filzwieser selbst habe aber unter Beachtung seiner zwei zu Beginn aufgestellten Prämissen Schritt für Schritt die gesamte Organisation neu aufgestellt und dieser den Namen „Organisation Wurzeln und Flügeln“ gegeben. Abgeleitet ist der Name aus der Natur: „Die Organisation ist ein Stück weit ein lebendiges System, das wir jeden Tag neu mit Leben füllen müssen.“ Die Wurzeln stehen für „alles, was nachhaltig ist, wie unsere Identität sowie Handlungswerte“. Letztere wurden formuliert, um den Mitarbeitern gewisse Leitsätze „in die Hand geben“ zu können. Dazu gehört etwa der Grundsatz, dass Gewinnmaximierung kein Unternehmensziel ist. Man wolle aus dem „Rennen im Hamsterrad“ aussteigen und stattdessen kurze Wege zum Ziel gehen. Es wird alles hinterfragt, viele Gewohnheiten radikal weggeschmissen und verändert. Heißt in der Praxis: Jours fixes wurden abgeschafft. „Wir machen nur mehr dann Besprechungen, wenn es auch etwas zu besprechen gibt.“ Es werden keine langfristigen Zukunftspläne mehr erstellt: „Dafür ist sehr viel Zeit draufgegangen und im Endeffekt wurde eh wieder alles anders.“ Weiters wurde definiert, dass man sich als „Lösungsfinder“ auf dem Gebiet der Kunststofftechnik verstehe und für „die richtigen Kunden“ Mehrwert generieren wolle. Denn nur, wenn das eigene Können und die Voraussetzungen zu den Anforderungen der Kunden passen, könne man die besten Lösungen finden. Dazu passe auch die schon Jahre zuvor getroffene Entscheidung, die Niederlassung in China mit einer völlig anderen Kultur aufzulassen. Es seien auch keine Auslandsniederlassungen geplant: „Ein Unternehmen mit 100 Mitarbeitern hat im deutschsprachigen Raum genug Möglichkeiten.“
Selbstverantwortung
Aber noch einmal zurück zur Aussage „richtiger Kunde“. Dazu Filzwieser: „Das war ein Punkt, bei dem mich die Mitarbeiter mit großen Augen angeschaut haben und gedacht haben, der spinnt ja und soll froh sein, dass wir überhaupt Kunden haben.“ Überhaupt würde sein Weg immer mal wieder Kopfschütteln auslösen. Aber davon lasse er sich nicht abhalten, es seien auch mehr und mehr Unternehmer auf der Suche nach etwas Neuem. Für Filzwieser war es immer klar, dass ein begleitender Diskussionsprozess im Unternehmen notwendig sei. Diese Aufgabe habe seine Frau übernommen, die zuvor nicht im Unternehmen tätig war und eine entsprechende Ausbildung dafür hat. Filzwieser hatte anfangs Zweifel, ob es funktioniert, wenn die Frau des Chefs den Mitarbeitern für Gespräche zur Verfügung steht. Doch die Mitarbeiter hätten das freiwillige Angebot, mit seiner Frau im Vertrauen sprechen zu können, rasch angenommen: „Es hat sich gezeigt, dass es den Menschen ein unheimliches Bedürfnis ist, über Dinge, die sie bewegen, zu sprechen.“ Das Angebot sei eigentlich nur für die wesentlichen Verantwortungsträger gedacht gewesen, doch es seien dann schnell Leute aus allen Bereichen des Unternehmens gekommen. „Und das war auch gut so“, erklärt Filzwieser. Das Ergebnis der Gespräche habe sehr viel zu dem Klima beigetragen, dass nun ganz entscheidend für das Unternehmen sei: nämlich eine Organisation ohne Hierarchien, wo man sich auf Augenhöhe begegnen kann. Dafür stehen auch die Flügel im Organisationsnamen: für die Individualität und Freiheit eines jeden Einzelnen im Unternehmen. Die Mitarbeiter sind zu Eigenverantwortung aufgerufen.
Filzwieser habe irgendwann bemerkt, dass man durch Hierarchien Barrieren baut und die Vielfalt nicht mehr wirken kann. Im Unternehmen gibt es daher nun 18 Verantwortungsfelder mit jeweils einem Feldverantwortlichen sowie eine zweite Verantwortungsebene mit sieben Verantwortlichen, worunter auch einer der Eigentümer selbst ist. In der zweiten Ebene werden Dinge mit Mehrheitsprinzip beschlossen. Filzwieser selbst hat auch nur eine Stimme und in drei Fällen ein Vetorecht: bei großen Investitionen und bei Entscheidungen gegen die Grundrichtung des Unternehmens oder die spezielle neue Organisationsform. „Im Inneren gibt es keinen Geschäftsführer mehr“, erklärt Filzwieser, dass er die Funktion nur mehr am Papier habe und sich nun als Lotse sieht. Er habe sich aus dem operativen Tagesgeschäft zurückgezogen und widme sich nun auch mehr seiner zweiten Leidenschaft, der Fotografie. Wenn es den Geschäftsführeranzug einmal braucht, wird dieser kurz aus dem Schrank geholt und dann schnell wieder reingehängt, denn im Unternehmen begegne man sich auf Augenhöhe und Lotse Filzwieser ist für die Navigation der Grundrichtung zuständig. In eine Richtung, die es erfordere, „ein Stück weit weg vom eigenen Ego zu gehen“ und viele einzelne Dinge zu machen, die man in einem Industrieunternehmen so gar nicht erwarten würde.