Schon mal etwas von atmenden Lebensläufen gehört? Oder darüber nachgedacht, warum wir uns immer mehr Selbstbestimmung in unserem Job wünschen? Das und vieles mehr erklären zwei Sozialforscher:innen.
Es ist Donnerstagmittag. An der Johannes Kepler Universität herrscht wieder reges Treiben. Während sich die Studierenden auf die kommenden Prüfungen vorbereiten, nehmen Martina Beham-Rabanser und Joachim Gerich vor ihrem Bildschirm am Institut für Soziologie Platz. Die Arbeitsabläufe wurden für sie in den vergangenen beiden Jahren digitaler – so auch unser Kennenlernen. Das Spannende dabei? Die beiden beleuchten in ihrer Forschung eben diese veränderten Vorstellungen von Arbeit und die Auswirkungen auf Gesellschaft und Individuen.
Martina Beham-Rabansers Begeisterung für ihr Forschungsfeld steckt an. New Work bedeute in erster Linie eine Abkehr vom sogenannten Normalarbeitsverlauf, erklärt sie uns gleich zu Beginn. Die Vorstellung von einer Fünftagewoche mit einem achtstündigen Arbeitstag oder auch das Verbleiben in einem Unternehmen von der Lehre bis zur Pensionierung sind nicht mehr zeitgemäß. Was ihr besonders wichtig ist: Arbeit bedeutet nicht mehr nur Erwerbsarbeit. Zunehmend rücken auch ehrenamtliche Arbeit oder Care-Arbeit in den Fokus. Die Existenzsicherung ist zwar nach wie vor wichtig, allerdings erfüllt Arbeit noch viele andere Funktionen. Sie gibt uns eine Zeitstruktur, wir definieren unsere Identität ein Stück weit über unsere Arbeit, sie schafft ein Gemeinschaftsgefühl und vieles mehr. Diese Faktoren werden nicht nur in der Erwerbsarbeit erfüllt. Deswegen kann Arbeit nicht mehr als Synonym für Erwerbsarbeit gelten.
Gehalt hat konstant hohen Stellenwert
Auch Joachim Gerich brennt für seine Materie. Er weiß: Was sich Menschen heutzutage von ihrer Arbeit wünschen, ist so vielseitig wie die Gesellschaft selbst. Studien zeigen, dass es sowohl Jungen als auch Älteren vor allem um eine Balance geht. „Der Faktor Gehalt hat zwar einen konstant hohen Stellenwert, wird aber von anderen Interessen und Bedürfnissen flankiert“, erklärt Gerich. Die eigenen Interessen wollen in Einklang gebracht werden, deswegen wird der Anspruch an gute Arbeit breiter und größer. Gerich ist überzeugt, dass ein Unternehmen Qualitätsdefizite oder zu hohe Anforderungen heute nicht mehr über mehr Gehalt ausgleichen kann.
Ein positives Betriebsklima kann man vor allem durch gelungene Kommunikation schaffen. Ein wertschätzender Umgang und vor allem gutes Leadership sind wichtige Investitionen seitens der Arbeitgeber:innen. Gerich betont, dass Unternehmen oft den Fehler machen, jene Menschen in Führungspositionen zu bringen, die am fleißigsten sind oder dem Unternehmen den größten wirtschaftlichen Erfolg bescheren. „Es wird unterschätzt, dass Führungskräfte nicht nur ökonomischen Erfolg im Auge haben sollten, sondern tatsächlich eine klimatische Funktion erfüllen können“, so Gerich.
Atmende Lebensläufe
Welchen konkreten Einfluss haben neue Konzepte von Arbeit nun auf unser Leben? Martina Beham-Rabanser spricht von den sogenannten atmenden Lebensläufen. Sie zeigen, dass unsere Lebensbiografien stark im Wandel sind. Es gibt heutzutage auch Phasen, in denen die Erwerbsarbeit weniger Bedeutung hat, zum Beispiel in Zeiten von vermehrter Care-Arbeit oder weiterer Ausbildung. Es braucht eine stärkere lebensphasenorientierte Gestaltung der Arbeitszeit. Eine zentrale Herausforderung der Zukunft wird es sein, den unterschiedlichen Bedürfnissen der Menschen Rechnung zu tragen. „Im Sinne dieser selbstbestimmten Lebensführung braucht es auch individuelle Gestaltungsspielräume für den oder die Einzelne:n“, so Beham-Rabanser. Und die Strukturen rundherum? Die verändern sich ebenfalls.
Sensibilisierung für psychische Gesundheit
Gerich erklärt uns, dass die direkte Kontrolle der Arbeitgeber:innen in Zeiten von Homeoffice immer mehr durch indirekte Steuerungen abgelöst wird. Der Mensch mit seinen individuellen Fähigkeiten und Kreativitätspotentialen wird dabei vermehrt in den Mittelpunkt gestellt. Jedoch kann diese indirekte Steuerung auch gesundheitliche Überforderung begünstigen. Eine aktuelle Studie zeigt, dass die Vertrauenskultur ganz ausschlaggebend für das Funktionieren von Homeoffice ist. Nur wenn es von Unternehmensseite klare Rahmenbedingungen für Erreichbarkeiten, Kommunikationskanäle und ähnliches gibt, kommt es nicht zu einer Intensivierung für die Arbeitnehmer:innen. Im deutschsprachigen Raum zeigt sich darüber hinaus eine vermehrte Sensibilisierung für das Thema psychische Gesundheit. „Burn-out“ ist dabei ein stark strapazierter Begriff. Dies ist aber durchaus positiv zu bewerten, weil dadurch die Tendenz, sich zu schützen, die eigene Gesundheit ernst zu nehmen und sich in gewisser Weise abzugrenzen, zunimmt. Nicht nur Betroffene, sondern auch die restliche Bevölkerung üben sich in Selbstaufmerksamkeit und gehen achtsamer mit Arbeitsbedingungen um, die sie selbst steuern können.
Chance für mehr Gleichberechtigung
Und wie sieht es mit den gesellschaftlichen Rollenbildern aus? Studienergebnisse zeigen: Frauen waren in der Pandemie oft die Krisenmanager:innen in der Familie. Doch es gab eine gewisse Gruppe an Männern – nämlich jene, die im Homeoffice tätig waren oder in Kurzarbeit waren –, die sich vermehrt am Familienleben beteiligt haben. Für Beham-Rabanser zeigt dies klar, dass die Veränderung von strukturellen Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel die Möglichkeit der vermehrten Teilzeitarbeit für Männer und Frauen, wichtige Schritte in Richtung Gleichberechtigung und gleichberechtigte Arbeitsaufteilungen leisten könnte.
Der Blick auf die Uhr zeigt: Schon ist die Zeit unseres Interviews vorbei. Die beiden Soziolog:innen könnten noch stundenlang weitererzählen. Und wir noch stundenlang erstaunt zuhören. Eines wurde jedenfalls klar: New Work verändert vieles in den Lebensabläufen der Menschen. Und doch bleibt es wichtig, die Gesellschaft in ihrer Vielfalt wahrzunehmen. Denn so unterschiedlich die Biografien sind, so individuell sind auch die sich verändernden Anforderungen an das Leben und die Arbeit._
Die Sensibilisierung für psychische Überlastungen durch Arbeit nimmt zu.
Joachim Gerich
assoziierter Professor für Soziologie und stellvertretender Abteilungsleiter der Abteilung für empirische Sozialforschung, Johannes Kepler Universität
Es braucht eine stärkere lebensphasenorientierte Gestaltung der Arbeitszeit.
Martina Beham-Rabanser
wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie, Abteilung empirische Sozialforschung, Johannes Kepler Universität
Aktuell befinden sich vier Generationen am Arbeitsmarkt - mit ihren unterschiedlichen Wertvorstellungen und Erwartungen.
Walter Hanus,
IVM Technical Consultants Wien