Wir haben ein Systemproblem. Und der Fachkräftemangel ist ein Symptom davon. Das Positive daran: Es gibt einige Möglichkeiten, wie Unternehmen hier agieren können und wir als Gesellschaft den Mangel auch als Chance begreifen können, um strukturelle Veränderungen anzustoßen. So die Meinung von Elisabeth Sechser, Expertin für Organisationsentwicklung. Sie möchte dazu anregen, Probleme an der Wurzel zu packen und Arbeit nachhaltig neu zu denken.
Wir sollten Unternehmen nicht als Ansammlung von menschlichen Ressourcen sehen, sondern als lokale, selbstorganisierte Gemeinschaften.
Elisabeth Sechser
Organisationsentwicklung, Sichtart
Auch im Erwachsenenalter sollte der Fokus darauf liegen, wie wir Arbeitsorte am besten gestalten können, damit jede:r das Gefühl hat, sich einbringen und entfalten zu können. Denn: „Arbeitsorte sind Lebensorte“, sagt Sechser. In Österreich wird ein großer Anteil an Unternehmen nach wie vor nach einem Top-down-Ansatz geführt. Sechser beschäftigt sich hingegen mit dem sogenannten Beta-Kodex, einem Organisationskonzept, das das „Oben – Unten“ hin zu einem „Außen – Innen“ wandelt. Zentrale Top-down-Steuerung wird dabei von einem partnerschaftlichen Miteinander in selbststeuernden Teams abgelöst.
Teams im Fokus
Ein wichtiger Aspekt sei, Teams als kleinstes Wertschöpfungselement in einem Unternehmen zu sehen und nicht Individuen. Dadurch könne man sich von einem individuellen Denken hin zu einem gemeinschaftlichen Denken entwickeln. „Organisationen sind nach wie vor sehr durchgemanagt. Man glaubt, nur wenn man etwas messen kann, hat es einen Wert. Dabei gibt es viele Dinge, die man zwar gemeinsam bewerten kann, um daraus zu lernen, die man aber nicht messen kann.“ Sechser verweist auf Studien, die nachweisen, dass das Messen von Einzelleistungen die Teamarbeit hindert, denn: „Vergleiche zwischen Menschen vermitteln ein falsches Verständnis von Leistung.“
Sie schlägt vor, dass alles, was an Einzelleistungsmessung und -anreizen in Unternehmen passiert, am besten eingestellt werden sollte. „Es wäre ratsam, mit dem Aufhören anzufangen“, formuliert sie treffend. Zu fragen: Erzeugen wir in unserer Organisation irgendetwas, das unserer Attraktivität schadet, und wenn ja, können wir damit aufhören? Dazu gehören laut Sechser auch alte Instrumente wie Zielvereinbarungsgespräche, denn: „Ein gemeinsam vereinbartes Ziel im selbstorganisierten Team ist eine viel stärkere Form der Führung, als sie jede Führungskraft schaffen könnte.“
Weitergedacht
Was hat das nun konkret mit dem Fachkräftemangel zu tun? So einiges! Organisationen, die Menschen dazu einladen, sich einzubringen und gemeinsam erfolgreich zu sein, stärken ihre eigene Attraktivität und die Mitarbeiterbindung. Menschen denken und handeln anders, wenn sie Einfluss auf die Unternehmensgestaltung haben. Das allein macht den Mangel zwar nicht wett – er ist wie gesagt ein komplexes Symptom –, aber die Teilhabe am Erfolg als unternehmerische Teams ist ein viel höherer Attraktor als die Illusion von Anreizung.
Am heutigen Arbeitnehmermarkt habe man sich gemeinsam in eine Pattsituation getrieben. Arbeitnehmer:innen fordern immer mehr im Recruitingprozess, Arbeitgeber haben das Gefühl, immer mehr bieten zu müssen. Dabei sollte viel mehr über die Arbeit selbst und darüber, wie man sich dort gut einbringen kann, geredet werden, meint Sechser. „Wir sollten Unternehmen nicht als Ansammlung von menschlichen Ressourcen sehen, sondern sie bestehend aus lokalen, selbstorganisierten Gemeinschaften betrachten. Und Partizipation in diesen Gemeinschaften heißt auch, zu eruieren, welchen Rahmen das Team braucht, um gut arbeiten und unternehmerisch erfolgreich sein zu können – in guten wie in schlechten Zeiten“, so Sechser.
Und was jetzt?
Einige Branchen, sei es der Gesundheits- und Sozialbereich, der Bildungsbereich, Kunst und Kultur oder die Gastronomie, müssten generell neu gedacht werden. Hier kann der Fachkräftemangel eine Chance sein, grundlegende Strukturen zu verändern und kritisch zu hinterfragen, wie diese Neuausrichtung aussehen kann. „Dafür gibt es kein Patentrezept und es sind alle gefordert, hier gemeinsam nachzudenken“, weiß Sechser.
Übrigens: 40 Prozent der Jobs, die es 2030 geben wird, sind noch nicht erfunden. Die Zukunft können wir also nicht planen, aber wir können permanent in Vorbereitung sein und jetzt Bildungsorte und -angebote für Menschen schaffen, um sich bestmöglich einbringen zu können. Und was uns zugutekommt: „Der Mensch ist ein intrinsisch motiviertes, hoch lernfähiges und anpassungsfähiges Wesen, denn sonst wären wir schon lange nicht mehr hier.“ Also sehen wir den Mangel als Chance für einen Umbruch in unserer Wirtschaft und Gesellschaft._
sichtart.at/
5 Stellschrauben,
an denen beim Fachkräftemangel gedreht werden sollte
#1 Wirtschaft ganzheitlich denken
#2 partnerschaftliche Gemeinschaft statt Individualisierung in Organisationen
#3 Bildungs- und Arbeitsorte schaffen, die den Menschen entsprechen
#4 den Wert von Unternehmen für die Gesellschaft bewusst sehen
#5 kritisches Hinterfragen der Art, wie wir Organisationen gestalten: Wo ist die attraktive Alternative?