Der European Green Deal soll dafür sorgen, dass Europa bis zum Jahr 2050 als erster Kontinent klimaneutral wird. Während Kadri Simson, EU-Kommissarin für Energie, den politischen Willen betont, wirtschaftliches und ökologisches Handeln zu vereinen, befürchtet der Präsident der Industriellenvereinigung Oberösterreich, Axel Greiner, negative standort- und finanzpolitische Auswirkungen für Österreich.
Der European Green Deal wurde Ende 2019 vorgestellt. Inwiefern beeinflusst die Coronakrise dieses Ziel?
SIMSONEs liegt auf der Hand, dass wir mit aller Entschlossenheit auf diese beispiellose Krise reagieren müssen, damit sich die Menschen und die Wirtschaft so schnell wie möglich erholen. Die Covid-19-Pandemie hat jedoch nichts daran geändert, dass uns der Klimawandel weiter vor große Herausforderungen stellt und sich die EU zur Klimaneutralität bis 2050 bekennt. Meiner Ansicht nach gibt es einen wachsenden Konsens darüber, dass wir diese Krise als Chance nutzen sollten, um eine bessere Zukunft für die Bürger der EU zu schaffen. Der europäische Grüne Deal ist unsere Umwelt- und Wirtschaftsstrategie und wird auch in den kommenden Jahren unsere Richtschnur sein.
Wieso sollte es ausgerechnet Europa gelingen, der erste klimaneutrale Kontinent zu werden?
SIMSONWir werden Erfolg haben, weil wir den politischen Willen zum Handeln haben. Zudem haben wir einen Plan, der sich nicht nur auf die Herausforderungen des Klimawandels konzentriert, sondern auch sicherstellt, dass der Grüne Deal den Menschen und den Unternehmen zugutekommt. Wenn wir vorleben, dass wirtschaftliche und ökologische Vorteile Hand in Hand gehen können, bin ich sicher, dass der Rest der Welt unserem Beispiel folgen wird.
Was sind aus Ihrer Sicht die zwei wichtigsten Themen, die auf europäischer Ebene die größte Hebelwirkung in puncto Klimaschutz haben?
SIMSONWir benötigen einen grundlegenden Wandel unseres Energiesystems, denn es verursacht 75 Prozent der Treibhausgasemissionen in der EU. Das künftige Energiesystem wird weitgehend auf erneuerbaren Energieträgern fußen. Am dringendsten ist der Ausbau unserer Offshore-Windenergie, denn dort liegt viel ungenutztes Potential. Elektrizität aus erneuerbaren Quellen kann auch zur Gewinnung von erneuerbarem Wasserstoff genutzt werden. Dieser kann helfen, Sektoren zu dekarbonisieren, in denen die Emissionssenkung schwierig ist – etwa in der Schwerindustrie oder in einigen Verkehrssektoren. Gleichzeitig müssen wir weniger Energie verbrauchen und verschwenden.
Können Sie das mit einem Beispiel erklären?
SIMSON40 Prozent des Energieverbrauchs in der EU entfallen auf Gebäude. Viele davon sind alt und ineffizient: 85 Prozent wurden vor 2001 gebaut, die meisten von ihnen werden 2050 noch bestehen. Mithilfe einer Renovierungswelle wollen wir die Renovierungsquote in der EU verdoppeln und so Emissionen und Energiekosten senken. Und was derzeit besonders wichtig ist: Renovierungen sind arbeitsintensiv und helfen somit dabei, Arbeitsplätze zu schaffen und das Wachstum anzukurbeln. Darüber hinaus müssen wir weiter nach neuen und besseren Lösungen suchen. Vor 30 Jahren wurde der erste Offshore-Windpark in Dänemark gebaut. Heute sind wir bei dieser Technologie weltweit führend und Offshore-Energie kann preislich mit fossilen Brennstoffen mithalten. Uns bleiben noch einmal 30 Jahre bis 2050, und wir sollten diese Zeit nutzen.
Laut der Europäischen Kommission wird die EU „diejenigen, die am stärksten mit dem Übergang zu einer umweltfreundlichen Wirtschaft zu kämpfen haben, finanziell und mit technischer Hilfe unterstützen“. Im Zeitraum 2021 bis 2027 sollen für die am meisten betroffenen Regionen mindestens 100 Milliarden Euro mobilisiert werden. Welche Regionen werden das sein und vor welchen Herausforderungen stehen diese?
SIMSONDer Mechanismus für einen gerechten Übergang konzentriert sich insbesondere auf die Regionen, Industrien und Beschäftigten, die am stärksten von der Abkehr von fossilen Brennstoffen betroffen sein werden. Das sind unter anderem Bergbauregionen und Beschäftigte in der Schwerindustrie. In Österreich liegen die Regionen mit den höchsten Treibhausgasemissionen in der Steiermark und in Oberösterreich. Kohlenstoffintensive Industriezweige sind dort wichtige Arbeitgeber. 2017 waren in der Steiermark und in Oberösterreich insgesamt fast 40.000 Menschen in der Herstellung von Metallen, Papier und chemischen Erzeugnissen beschäftigt. Die hohe Kohlenstoffintensität der Industrien in der östlichen Obersteiermark und im Traunviertel macht deutlich, vor welch großen Herausforderungen wir bei der Dekarbonisierung stehen.
In welcher Rolle sehen Sie Österreich im Bereich der Energiewende?
SIMSONÖsterreich zählt bei der Energiewende zu den Wegbereitern in Europa. Die Regierung hat sich nicht nur verpflichtet, bis 2030 Strom aus 100 Prozent erneuerbaren Energiequellen zu nutzen, sondern auch bis 2040 insgesamt Klimaneutralität zu erreichen. Damit ist Österreich unserem gemeinsamen Zeitplan zehn Jahre voraus! Österreich ist Vorreiter bei der Nutzung erneuerbarer Energien: Schon heute stammen 77 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energiequellen und an manchen Tagen sind es sogar fast 100 Prozent. Österreich ist bei grünen Technologien weltweit führend und kann eine starke Innovationsleistung vorweisen. Derzeit laufen mehrere Demonstrationsvorhaben in enger Zusammenarbeit mit dem Privatsektor, bei denen Wasserstoff in Industrie und Verkehr eingesetzt wird. Im Oktober habe ich virtuell die österreichische Umweltministerin Leonore Gewessler getroffen, um die österreichischen Pläne zu erörtern und ihr meine Unterstützung zuzusagen.
Österreich zählt bei der Energiewende zu den Wegbereitern in Europa.
Kadri Simson
EU-Kommissarin für Energie